Chris Gall

Chris Gall, Jahrgang 1975, studierte am renommierten Berklee College of Music in Boston, das schon Jazz- und Popgrößen wie Branford Marsalis, Melissa Etheridge, Brad Mehldau, Bill Frisell u.v.a. ausgebildet hat.

Ganz allein hat er an seinem Flügel gesessen und manchmal auch an einem fast antiken Fundstück, einem Klavier, das seine besten Tage längst hinter sich hatte, “bei dem alles klapperte und nichts perfekt war. Die Nebengeräusche sind dominant, aber genau deshalb wollte ich den haben, ich wollte den Klangcharakter wirken lassen.” Chris Gall lächelt. Auch weil der Titel seines neuen Albums “Room Of Silence” sein Versprechen erfüllt: Es lädt den Hörer ein zu einem Ausflug in die Nacht, und das zu jeder beliebigen Tageszeit.

Man sitzt da und lauscht und schließt die Augen, denn irgendwer hat an der Uhr gedreht, sie läuft jetzt scheinbar langsamer. Als habe jemand das Konzept Slow Food in Musik übersetzt. Der Dolmetscher ist Chris Gall, sein audiophiler Gast wird ganz allmählich zum Zuhörer und schließlich zum Regisseur seines eigenen Kopfkinos. Das war zwar auch bei seinen Trio-Arbeiten schon so, “aber wenn ich allein spiele”, so Gall, “bleibt für die Fantasie des Hörers bestimmt noch ein bisschen mehr Platz. Beschenkt werden sie von Gall mit eben jenem “Room Of Silence”, einem Ort zum stillen und friedlichen Verweilen, vielleicht gar der Kontemplation, den er seinen Hörern zeigen möchte

Fragt sich, woher der Süddeutsche den Humus seiner wortlosen Soundtracks sammelt. was etwa lieferte ihm Inspirationen, die einen Titel “The Puppeteer”, der Puppenspieler heißen lassen? Gall muss nicht lange überlegen, “das bezieht sich auf eine Figur aus dem Film ’Being John Malkovich’.” Da spiele John Cusack den Puppenspieler als frustriert melancholischen Kleinkünstler, “und dieses Verzweifelte der Figur hat mich angeregt. Solch einen Hintergrund haben die meisten Stücke.” “Another Love Song” wiederum sei von seinem armenischen Kollegen Tigran Hamasyan inspiriert. Neben Galls Eigenkompositionen, aufgenommen auf einem wunderbaren Steinway Flügel, finden sich auf dem Album auch vier Cover-Versionen, allesamt auf besagtem, betagtem Klavier eingespielt. Bei “It Never Entered My Mind” bezieht sich der Pianist auf “die berühmte Miles Davis Quintett-Version von ’Working’ aus dem Jahr 1956. “Meine rechte Hand spielt fast ziemlich gleich die von mir transkribierte Miles Davis Stimme, meine linke Hand orientiert sich an Radioheads ’Daydreaming’ von 2016.” Ein echtes Faszinosum. Neben dem selten gespielten “Estrada Branca” von Antonio Carlos Jobim erklingt auch John Lennons “Julia”. Hier habe er versucht, sich an den alten Gitarrenklängen zu orientieren, “das hat schon etwas sehr Archaisches.”

Das Quartett vervollständigt eine der wenigen Eigenkompositionen des Oscar Peterson. “Hymn To Freedom”, sagt Chris Gall, “wurde damals von Martin Luther King zum thematischen Titelsong seiner Bürgerrechtsbewegung erklärt”, und das käme seinem zweiten, erklärten Ziel entgegen, so wie es z.B. auch der „Room of Silence“ am Brandenburger Tor inmitten des Berliner Großstadtgewimmels ermöglichen will: “Der Raum der Stille soll eine ständige Aufforderung zu Geschwisterlichkeit und Toleranz unter den Menschen, zwischen den Nationalitäten und Weltanschauungen sein, eine ständige Mahnung gegen Gewalt und Fremdenfeindlichkeit – ein kleiner Schritt hin zum Frieden.“

Chris Galls bereits zweites Soloalbum hat ihn nach seinem erst Anfang 2018 erschienenem Trio-Album „Cosmic-Playground“, auch zurück zu einem etwas anderen Produktionsprozess geführt. “Der ist natürlich anders strukturiert, weil ich ja niemandem zu einem verabredeten Zeitpunkt die Noten geben und ihm mitteilen muss, wann genau wir proben und aufnehmen.” Er sei flexibler und könne bis zur letzten Sekunde noch an seinen Kompositionen und Arrangements arbeiten. Andererseits könne er sich “von keiner Begleitung inspirieren lassen, sondern muss mich auf mich selbst verlassen. Dadurch bin ich in gewisser Weise auch mir selbst ausgeliefert.” Mehr noch als im Studio gilt das auf der Bühne, sagt Chris Gall, “solo kann ich da oben nur bestehen, wenn ich mit mir im Reinen bin. Ist das so, bin ich sehr schnell total in der Musik versunken, und das spürt mein Publikum dann sofort.” Und dann erzählt Chris Gall noch eine Anekdote, so wunderbar wie die Filme, die einem zu seiner Musik einfallen. Er sei mal in Brasilien unterwegs gewesen, mit einer größeren Band, “da sollte nach uns ein Brasilianer ganz allein spielen, und ich fragte mich, wie der denn wohl bestehen will. Aber wir wurden eines Besseren belehrt: er hat uns in Grund und Boden gespielt, nicht obwohl, sondern eben weil er allein da stand. Das wollte ich auch mal erleben!”

Und so wie in diesem Beispiel Kleines und Ruhiges große Wirkung entfacht, kann auch ein Flügel nicht nur kräftig und dominant, sondern auch weich, zart und geheimnisvoll daherkommen – und so seinen vollen Zauber entfalten. Leise Töne modulieren zu neuen Klängen, Fantasien finden ihren Platz zum Atmen. Eine Vielfalt neuer Eindrücke, die in der lärmenden und temporeichen Geräuschkulisse des Alltags oft untergehen. Vielleicht ist ein „Room of Silence“ deshalb einfach nur ein Ort, in den man sich selbst jederzeit zurückziehen können will. Egal wo man gerade ist, egal was um einen herum gerade passiert. Und vielleicht kann einem dieses Album dabei helfen, diesem Raum zu finden und die Türe zum „Room of Silence“ zu öffnen.

Artist Site: www.chrisgallmusic.com

Konzerttermine: chrisgallmusic.com/live/

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert