Stochelo Rosenberg & Jermaine Landsberger

Der wichtigste Europäer der klassischen Jazz-Ära war zweifelsohne Django Reinhardt. Hat der unerreicht virtuose und swingende Gitarrist doch mit seinem „Hot Club de Paris“ in den Dreißigerjahren den einzigen Stil erfunden, der nicht aus den USA kam: den – gerne auch Hot Jazz genannten – Gypsy Swing. Wie der Name andeutet, ist Reinhardts Musik eng verbunden mit der musikalischen Tradition der Sinti, und bis heute sind es die autodidaktischen Instinkt-Musiker dieser Volksgruppen, die Reinhardts mitreißenden und zeitlosen Stil pflegen und weiterführten.

Für Reinhardts Platz auf dem Thron des Hot-Jazz-Gitarrenkönigs gibt es in der Fachwelt seit vielen Jahren wenig Zweifel: Es ist der heute 48-jährige niederländische Sinto Stochelo Rosenberg, der mit zwölf Jahren den ersten großen Gitarrenwettbewerb gewann. Was sich auch daran zeigt, dass Reinhardts langjähriger Partner, der langjährige Violinist Stephane Grappelli, den gerade 25-Jährigen Rosenberg 1993 zum Konzert in die Carnegie Hall holte und danach regelmäßig mit ihn auf Tour ging. Und als Reinhardts Leben 2017 in „Django – Ein Leben für die Musik“ verfilmt wurde, war Rosenberg die erste Wahl für den Soundtrack, der ihm absolut authentisch gelang.

Sein erstes Album hatte Rosenberg zwar erst mit 21 eingespielt, doch schon zwei Platten später bekam er die Goldene Gitarre des Fachmagazins Guitarist für seine Verdienste um die Akustikgitarre. Der Durchbruch gelang ihm sozusagen mit einer Familienangelegenheit, dem Rosenberg Trio mit seinen Cousins Nous’sche und Nonnie. Diese Formation gilt bis heute als Inbegriff eines Hot Jazz Trios mit Sologitarre, Rhythmusgitarre und Bass. Lange Zeit hat Stochelo Rosenberg den Pfad des klassischen Reinhardtschen Gypsy Swing selten verlassen – die Begleitung des Liedermachers Hermann van Veen war so eine Ausnahme. Wenn sein neues Album nun „Gypsy Today“ heißt, dann ist dies Ausdruck einer programmatischen Öffnung, die mit der auch schon zehn Jahre alten Partnerschaft mit dem Pianisten und Organisten Jermaine Landsberger zusammenhängt, die der Schlüssel für diese Einspielung ist: „Jermaine hat mich dabei unterstützt und mich getrieben, viel moderner zu spielen als ich es vorher tat. Er brachte mich dahin, wo ich immer hin wollte. Für mich wird er immer der beste Gypsy Jazz Pianist und Komponist bleiben,“ sagt Stochelo über seinen Freund.

In der Tat ist der 1973 im niederbayerischen Vilsbiburg geborene, seit langem in Nürnberg wohnende Spross einer Sinti-Familie eine Ausnahmefigur der Szene. Schon weil er als Instrument nicht die für Gypsy Swing typische Gitarre oder Geige wählte, sondern Klavier. Schon mit 18 interessierte er sich für modernes Jazz-Piano von Oscar Peterson bis Keith Jarrett oder Herbie Hancock, was die Gypsy-Traditionalisten „etwas verschreckt hat“, wie er erzählt. Andererseits blieben die Sinti-Elemente immer Teil seines Spiels, was ihm bis heute ein Alleinstellungsmerkmal verschafft. Unverwechselbar klangen und klingen seine Bands: die frühen Trios von Mitte der Neunzigerjahre mit dem schottischen Jazz-Gitarristen Martin Taylor; die Kollaborationen mit Biréli Lagréne, dem wohl modernsten und bis zu Fusion und Jazz offensten aller Sinti-Gitarristen, mit dem natürlich auch Stochelo Rosenberg schon oft gespielt hat; oder auch seine Orgel-Projekte wie Hammond Eggs, bei denen Jazz-Stars wie Pat Martino, Randy Brecker, Bob Mintzer oder Larry Coryell mitwirkten. Sein aktuelles, neues Klaviertrio mit dem Drummer Donald Edwards und dem Bassisten Darryl Hall ist gar eine komplette New Yorker Angelegenheit.

Die Kombination des avantgardistischen Pianisten Jermaine Landsberger mit dem weiterstrebenden Reinhardt-Erben Stochelo Rosenberg musste also fast zwangsläufig unter respektvoller Bewahrung seiner Qualitäten den Hot Jazz in die Gegenwart katapultieren: „Gypsy Today“ eben. Oder wie es Rosenberg formuliert: „Ich bin kein Modern Jazz-Gitarrist, ich denke mehr im Geist des späten Django Reinhardt aus dem Jahr 1953. Aber ich glaube, dass es Zeit ist, diese Musik in eine andere zu transportieren – ins Jahr 2020. Das wäre, betrachtet man seine eigene Entwicklung von den Dreißigern bis in die Fünfziger, sicher ganz im Sinne Djangos gewesen.“

Wie das perfekt funktioniert und welcher Gewinn das ist, demonstriert schon Kurt Weills „September Song“ zum Einstieg in das Album. Schlagzeug-Beats bringen Groove in den Swing, das Klavier zaubert Bebop-Akkordbegleitung ebenso hervor wie moderne Improvisationssoli, Rosenbergs Gitarre kombiniert den Ton der Gypsy-Gitarre und ihre rasenden Läufe mit einem ruhigem, klaren Sound, der fast schon an Wes Montgomery erinnert. Das Programm spiegelt sich später auch im Titel einer Landsberger-Komposition: „The Bebop Gypsy“. Am klarsten wird die innovative Kraft von „Gypsy Today“ vielleicht bei den zwei Django-Reinhardt-Originals, die Rosenberg und Landsberger auswählten: „Double Scotch“ verwandelt sich unter ihren Händen in eine humorvolle Boogaloo-Nummer, die den Pariser Manouche-Flair nach New Orleans trägt. Die melancholische Ballade „Anouman“ wiederum nimmt durch ein Walking-Bass-Motiv Fahrt auf und bekommt durch Landsbergers Solo-Eskapaden eine frische, spielerische Note.

Zum wunderschönen, hier mit einem Latin-Rhythmus und den Hot-Jazz-Stopps aktualisierten Standard „Poinciana“ kommen denn jeweils drei Eigenkompositionen der beiden. So stammt der Titelsong, der das Tempo und den Swing des Sinti-Swing mit moderner Harmonik und Groove-orientierter Rhythmik zusammenführt, aus Landsbergers Feder. Rosenberg steuerte ganz neues Material wie das spannungsgeladene „Double Jeu“ bei, zum Abschluss des Albums erklingt dann  Paquito D’Riveras „Seresta“, das Rosenberg schon 1989 auf seiner ersten Platte eingespielt hatte. Jetzt freilich im puren Klavier/Gitarre-Duett und auf dem Status Quo der Hot-Jazz-Exegese: als „Gypsy Today“ eben.

Zum Gelingen dieses ambitionierten Projekts trugen natürlich auch die exzellenten Begleiter bei. Auch hier kombinierten die beiden ihre Kräfte: Am Bass teilten sich Landsbergers aktueller Begleiter Darryl Hall und der deutsch-schweizer Gypsy-Swing-Spezialist Joel Locher (der auch auf dem soeben bei GLM erschienenen neuen Album von Wawau Adler zu hören ist) ebenso die Arbeit wie am Schlagzeug der große französische Drummer André „Dede“ Cecarelli und der in London arbeitende Sebastiaan de Krom. Sie alle spielen jeweils fünf Titel.

Die besondere Note aber bekommt „Gypsy Today“ durch den Gaststar, der der Ausgangspunkt von Landsbergers und Rosenbergs Planungen für das Album war: der französische Geiger Didier Lockwood, ein Multistilist und neben Mark Feldman sicher die ragende Gestalt der Jazzvioline. Er war von dem modernen Konzept der beiden überrascht, aber umso mehr erfreut, und spielte mit typischem Elan, technischer Brillanz und improvisatorischer Kreativität schon 2015 die drei von Landsberger geschriebenen Stücke des Albums mit der Band ein. Als Lockwood 2018 überraschend starb, war die Erschütterung bei Rosenberg und Landsberger so groß, dass sie beschlossen, das bereits fertige Album nicht zu veröffentlichen. Zwei Jahre vergingen, alles wurde noch einmal auf den Prüfstand gestellt, eine weitere Studiosession angesetzt, und schließlich das Okay gegeben. So ist „Gypsy Today“ nun nicht nur eine klare Botschaft für die Zukunft des Sinti-Swing, sondern auch ein Vermächtnis des unvergleichlichen Didier Lockwood. Ihm ist von Rosenberg und Landsberger deswegen auch das Album gewidmet.