Description
Chris Gall Piano
Bernhard Schimpelsberger Percussion
MYRIAD von Chris Gall & Bernhard Schimpelsberger
Das Duo als die kleinst mögliche Bandbesetzung. Zugleich aber auch eine der Schwierigsten. Denn der öffentliche Dialog offenbart die Persönlichkeit und das Können der Beteiligten schonungslos und in sämtlichen Facetten. Alles ist hörbar, jedes Versehen, jede Verunsicherung beeinflusst das Projekt, gibt ihm eine ungewollte Richtung. Zugleich bedeutet das Duospiel im Jazz aber auch Herausforderung und Abenteuer. Sich auszuprobieren, musikalisch und individuell Reibung zu erzeugen, ohne den Faden zum Partner zu verlieren, ist nun einmal das Wesen des Jazz. Es gilt im Dialog Gemeinsamkeiten, sowie auch Unentdecktes, bisher Verborgenes zu ertasten und beides tolerabel in die eigenen musikalischen Betrachtungsweisen einzubauen. Dieses (auch psychologische) Feingefühl ist eine hohe Kunst.
Chris Gall und Bernhard Schimpelsberger beherrschen diese Kunst grandios. Der Pianist und der Perkussionist suchen auf den 10 Titeln des Albums „Myriad“ nach einem musikalischen Ausdruck, der eben jenes erwähnte Übereinstimmende und Abweichende miteinander ins Verhältnis bringt.
Ausgangspunkt für diese spannende Reise ist die unterschiedliche kulturelle Herangehensweise beider Musiker. Chris Gall sieht seine Wurzeln eher in der europäischen Klassik und in der Hinwendung zur westlichen Improvisationsmusik, wie sie überwiegend im Jazz genutzt wird. Bernhard Schimpelsberger hat sich in den letzten Jahren sehr intensiv mit indischer Musik beschäftigt, mit den sehr komplexen, tradierten Rhythmusstrukturen fernöstlicher Musik.
Als Anstoß nutzen sie einzelne, kurze Ideen, aus denen dann die Kompositionen entstehen. „Wir haben uns über Wochen Skizzen in Notenform oder als kleine Audio-Dateien zwischen London und München hin- und hergeschickt“, erzählt Chris Gall. „Vor unserem Studiotermin im Bayerischen Rundfunk, haben wir uns dann schließlich zwei Wochen im Proberaum eingesperrt, alles ausprobiert und die Puzzleteile zusammengesetzt. Die meisten Stücke sind auf diese Weise komplett neu entstanden und fast alle extra für unser Duo komponiert worden“.
„Die Kompositionen dienen uns hier als Kompass auf diesen Klangreisen“, erläutert Bernhard Schimpelsberger. „Wir folgen ihnen, dazwischen gibt es aber auch immer sehr viel Platz für Improvisation. Auch hier bietet das Duo eine wundervolle Freiheit.“
So bietet der notierte Unterbau noch genügend Raum für spontanes Reagieren, für improvisatorische Flüchtigkeiten, was den Fähigkeiten und dem musikalischen Denken der beiden Solisten enorm entgegenkommt.
Kennengelernt haben sie sich 2003, als Bernhard Schimpelsberger den Pianisten mit der brasilianischen Sängerin Giana Viscardi live in Österreich erlebte. „Ich war begeistert von seiner sehr impulsiven und rhythmisch starken Spielweise“, bekennt Bernhard Schimpelsberger. „In den Jahren darauf lud ich ihn ein in meiner Band Taalism mit dem Sitarspieler Shakir Khan mitzuwirken. Nach zwei erfolgreichen Tourneen mit Taalism war es klar, dass wir in der Zukunft wieder gemeinsam musizieren wollten, die Details aber waren offen.“
Dann gab es eine Zeit mit wenigen musikalischen Kontakten. Chris Gall beschäftigte sich intensiv mit Trio-, Duo- und Soloprojekten, die in bemerkenswerten Aufnahmen für die Label Act, Acoustic Music und GLM mündeten. Bernhard Schimpelsberger zog es nach Indien, wo er sich vor Ort mit indischer Musik auseinandersetzte. Zusammengekommen sind sie dann wieder 2016, für eine spontane Produktion der Reihe „Studio Konzerte“ in den Ludwigsburger Bauer Studios, die auf Vinyl vorliegt. Diese gemeinsame Arbeit sahen beide von Beginn an als eine Herausforderung und beglückende Situation. Sie hatten die Möglichkeit, während der Probephase in einzelnen Konzerten die entstandenen Ideen in die Praxis umzusetzen.
Mit „Myriad“ ist nun ein Album entstanden, das von einer brodelnden rhythmischen Spannung lebt und das von einer tiefgründigen wie beseelten Kommunikation getragen wird. Hier werden Grenzen im positiven Sinn überstiegen, hier wechseln mit Bedacht die Stimmungen, hier bekommt der Terminus Weltmusik eine gänzlich eigene, eine individuelle Note. Das Visionäre findet in dieser Fusion aus westlicher und östlicher Kultur ebenso Platz, wie das Bodenständige. Und Chris Gall sagt dazu: „Wenn z.B. das 13-8-tel Pattern in „Pinhole Observer“ sehr durchgängig ist, wird dieses Pattern trotzdem frei und jedes Mal unterschiedlich ausgefüllt. Einen klassischen „Solo-Part“ wie das Klaviersolo im Mittelteil von selbigem Stück oder bei „Myriad“ gibt es relativ wenig.“
Die Vitalität des gespielten reißt auf „Myriad“ mit, öffnet immer wieder neue, entlegene Schubladen, die angereichert sind mit dramaturgischem Kalkül und magischen Klangtexturen. Eine wirkliche Sternstunde in der langen Kunst des Duospiels.
Seit unserem ersten Album „Studio Konzert“ wird uns immer wieder nachgesagt, auf der Bühne in eine Art musikalischen Dialog zu treten. Für uns ein Anlass, diesen Dialog in Worte zu fassen.
Bernhard: Wäre es nicht eine interessante Vorstellung: treffen sich ein paar Klaviertasten und diese und jene Trommel auf einer Bühne zu einem Plausch und unterhalten sich vielleicht darüber, wie sich so manche Rhythmen von dir auf dem Klavier am besten umsetzen lassen?
Chris: So wie bei deinem Stück „Segeriyua“! Das war rhythmisch absolutes Neuland für mich, auch wenn es auf einem Seguiriya, einer der ältesten Formen des Flamenco, basiert. Als du mir das Stück zum ersten Mal gezeigt hast, war ich mir nicht sicher, ob dir auch bewusst ist, dass ich nur zwei Hände habe. Du hast schließlich zwei Hände UND zwei Füße um deine vielen Rhythmus-Ebenen übereinander zu legen!
B: Einen Vorteil muss mein Instrument ja haben! Darum wollte ich auch unbedingt Perkussionist werden, obwohl in meiner Familie alle Klavier gespielt haben. Letztlich waren es aber so stringente und zugleich lebendige Rhythmus-Patterns wie die eines Seguiriyas, die mich schon immer am meisten fasziniert haben.
C: So wie bei deinem neuesten Song „New Life“? Das minimalistische Motiv auf der Kalimba könnte gar nicht dringlicher sein!
B: Aber durch die Unreinheit der afrikanischen Kalimba, liebevoll übrigens Daumenklavier genannt, entsteht trotz aller Stringenz eine gewisse Eigendynamik, eine Lebendigkeit eben.
C: Das ist übrigens genau das, was mir als Pianisten, der sich im Optimalfall auf einem wohltemperierten Klavier austoben darf, an deinem Setup so gefällt: jedes deiner Instrumente, die ja aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen stammen, hat eine eigene Persönlichkeit – klangliche Unikate, weit weg von „wohltemperiert“ und dennoch absolut stimmig!
B: Das ist vielleicht der Grund warum sie sich so gut mit deinem Klavierspiel ergänzen, das ja auch so stark in Groove und markanten Rhythmen verwurzelt ist. Vor allem meine tonalen Instrumente wie die 6-glockige Garrapata und die hölzerne Tongue-Drum verschmelzen wunderbar mit dem Klavier. Ich dachte einfach, ein bisschen melodische Entlastung tut dir in einem Duo-Setting wie dem unseren auch mal ganz gut.
C: Absolut. Selbst die kleine indische Rahmentrommel Kanjira und deine eigens entwickelte Bassdrum, die du in verschiedenen Tonhöhen spielen kannst, übernehmen bei uns manchmal so etwas wie eine melodische Funktion.
B: Bei John Cage’s „In a Landscape“ hat das ja auch gut funktioniert. Obwohl das Stück im Original recht einfach und meditativ klingt, ist es formal gesehen mit durchweg unsymmetrischen Motiven ziemlich komplex. Für westliche Musik in der damaligen Zeit – es wurde 1948 uraufgeführt – äußerst ungewöhnlich.
C: Tatsächlich habe ich das Stück bei ziemlich gleichem Tempo und Puls über zwei Minuten gekürzt, aber dabei fast keine Töne dazu- oder weggenommen. Lediglich die Intensität und Dichte des Rhythmus hat sich verändert. Das ist ein bisschen so, als würde man ein großes Bild in einen kleineren Bilderrahmen stecken, ohne dabei die Formen des Bildes an sich zu verkleinern. Schräg – aber ich hoffe, der Komponist nimmt es mir nicht übel.
B: Sicher nicht. Den minimalistisch-verträumten Charakter hat das Stück auf jeden Fall behalten. Schön zu sehen wie man allein durch Rhythmus ein Stück beeinflussen kann. Ich glaube ja – ohne euch Harmonikern zu nahe treten zu wollen – dass sich im letzten Jahrhundert die Rhythmik von allen musikalischen Elementen am schnellsten entwickelt hat. Ob in der Klassik oder elektronischen Musik, alles wird rhythmischer!
C: Letztendlich geht die musikalische Dynamik mit der kulturellen Globalisierung und weltmusikalischen Transparenz einher. Nur durch sie war es überhaupt möglich, dass beispielsweise Bossa Nova entstehen konnte. Und schon gar nicht wäre mir der Mittelteil von „Poem on a Typewriter“ eingefallen, was ja eine exotische Melange aus zeitgenössischem Jazz, 12-Tonmusik, rhythmischen Strukturen der klassischen indischen Musik und der Silbensprache Konnakol ist. Es ist toll, so großen Gestaltungsspielraum zu haben.
B: Ja, diese musikalische Freiheit ist ein großes Glück. Alles mögliche auszuprobieren, Freude daran zu haben und gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen!
Kaum ein deutscher Pianist hat in den vergangenen Jahren die Stilgrenzen des Jazz so konsequent und originell erweitert wie der Münchner Chris Gall. Mit seinen beiden Trio-Veröffentlichungen „Climbing Up“ (2008) und „Hello Stranger“ (2010) beim Label ACT machte der Absolvent des renommierten Berklee College of Music in Boston als früh auf sich aufmerksam und begeisterte das Publikum auf großen Festivals von Montreux bis zur Jazzbaltica. Mit den mehrfachen ECHO-Gewinnern Quadro Nuevo reist Chris Gall nach Buenos Aires und wird 2015 für ihr gemeinsames Album „Tango!“ mit dem Platin-Jazz Award der Deutschen Phonoindustrie ausgezeichnet. Danach veröffentlicht er seine beiden Solo-Alben “Piano Solo” und “Room of Silence“, sowie sein drittes Trio-Album „Cosmic Playground“, das es unter die „10 of the hottest new jazz albums“ des renommierten amerikanischen Jazzmagazins JAZZIZ geschafft hat. Im letzten Jahr komponierte und arrangierte Chris Gall für namhafte Orchester, u.a. für das Album „Volkslied reloaded“ (Sony Classics), eine Kollaboration von Quadro Nuevo und dem Münchner Rundfunkorchester.
Der Perkussionist, Schlagzeuger und Komponist Bernhard Schimpelsberger studierte in Indien jahrelang Rhythmik bei einem der größten Tabla-Meister unserer Zeit, Pandit Suresh Talwalkar. Aufgewachsen in Österreich, lebt er seit vielen Jahren in London, dem weltmusikalischen Melting Pot Europas. Auf seiner Suche nach immer neuen Klängen bereiste er die ganze Welt und komponiert Musik, die Genres überschreitet. Vom britischen Schlagzeugmagazin „Drummer UK“ als „einer der technisch talentiertesten und geschmackvollsten Spieler der letzten Jahre“ beschrieben, zeichnet er seine Rhythmen mit einer faszinierenden Palette von Perkussionsinstrumenten aus aller Welt. Bernhard Schimpelsberger komponierte Musik für Orchester („Kismet“, Beethovenfest Bonn 2018), Percussion Ensembles (Rhythm on Water, Rowing World Cup Championships, 2019) Kunstinstallationen und viele zeitgenössische Tanzproduktionen. Sein einzigartiger Rhythmusansatz schafft eine filmische Textur die von Künstlern aller Genres gesucht wird. Zu seinen Kollaborateuren zählen viele Meister ihres Fachs, wie z.B. Anoushka Shankar (Sitar), Akram Khan (Tanz) oder Gwilym Simcock (Piano).