Schon Johannes Brahms hielt sie für „eines der wunderbarsten, unbegreiflichsten Musikstücke“; Yehudi Menuhin nannte sie „die großartigste Struktur für Solo-Violine, die es gibt“, sein Nachfolger Joshua Bell sogar „nicht nur eines der größten Musikstücke, die je geschrieben wurden, sondern eine der größten Leistungen eines Menschen in der Geschichte.“ Gemeint ist die „Ciaccona“ von Johann Sebastian Bach, der vermutlich erst später – vielleicht unter dem Eindruck des Todes seiner ersten Frau Maria Barbara 1720 – hinzugefügte fünfte Satz der Partita Nr. 2 d-moll, BWV 1004. Diese 64 freien Variationen über ein Baßthema – eher unter dem französischen Begriff „Chaconne“ bekannt und ursprünglich ein spanischer Tanz – sind nicht nur fast so lang wie die anderen vier Sätze zusammen. Sie vor allem begründeten den Rang von Bachs Zyklus von sechs Partiten und Sonaten für Solo-Violine als einen Gipfel der Geigenliteratur, technisch wie musikalisch.
So hat auch die Geigerin Doris Orsan ihr neues Solo-Album „Ciaccona“ betitelt, obwohl sie natürlich nicht nur diesen Satz, sondern die kompletten beiden ersten Partiten von Bach spielt. In der Tradition vieler großer Vorgänger macht sie mit ihrer Interpretation aufs Neue deutlich, was Bachs Musik so einzigartig macht: So vollendet ist bei ihm die Form, dass daraus eine unvergleichliche Freiheit erwächst; so grundlegend, essentiell und zeitlos sind seine musikalischen Gedanken, dass sie sich über Stile und Moden erheben und ganz im individuellen Ausdruck desjenigen aufgehen, der sie spielt. „Bachs Musik führt den Ausführenden zu sich selbst, zum eigenen Ausdruck, der zugleich in der Musik seine Allgemeingültigkeit findet,“ sagt Orsan. „In diesem Sinne gibt es nicht die eine wahre Bach-Interpretation, sein Werk nimmt alle auf, die sich auf die Suche begeben.“
Freilich kann man unterscheiden, wer bei dieser Suche einen festen Grund findet. Doris Orsan tut es. Ihre „Aneignung“ der Partiten und der Ciaccona ist tiefgründig, kreativ und lyrisch. Weit entfernt vom mechanistischen Spiel früherer Zeiten oder von einer allzu weichen, Bachs Klarheit und Offenheit erstickenden Romantisierung. All die Erfahrungen ihres Musikerlebens fließen ein, und es zeigt sich wieder einmal, dass Bachs Musik umso stärker ist, je breiter, ja moderner die Haltung dessen ist, der sie spielt. Bach ist eben keine „Barockmusik“, sondern zeitloser Klang, mit dem alle Musik beginnt und endet. Nicht ohne Grund haben zuletzt so viele Jazzmusiker Bach für sich – und als einen der ihren – entdeckt.
So stellt sich Orsan dieser großen Aufgabe mit Leidenschaft und einem weiten Horizont. Ausgebildet am Salzburger Mozarteum und an der Juillard School of Music in New York, das Konzert- und Meisterklassendiplom mit Auszeichnung abgeschlossen und mit einem Kulturpreis des Staates Österreich dekoriert, hat Orsan sich mit klassischer Musik aller Epochen beschäftigt. Ihre Einspielungen umfassen neben Bach und Schubert viele zeitgenössische, zum Teil für sie komponierte Werke. Sie promovierte mit „summa cum laude“ über die Violinkonzerte Mozarts. Zum anderen aber ist sie auch im spanisch-lateinamerikanischen Musikkosmos zuhause, vorwiegend im Duo mit ihrem Mann, dem Gitarristen Johannes Tonio Kreusch. Die beiden sind Widmungsträger vieler Kompositionen von wichtigen Komponisten wie Tulio Peramo Cabrera oder Maximo Diego Pujol.
Sie sind auch Widmungsträger eines Werkes von Nikolaus Brass, einem der produktivsten und am meisten gespielten Komponisten der Neuen Musik, der die Fähigkeiten von Doris Orsan schon seit langem schätzt. Und so hat Orsan auf ihrer neuen CD „songlines I“ eingefügt, ein Violin-Solo aus Brass‘ sechsteiligem Zyklus mit Solo- und Duo-Stücken für Streicher, der von Bruce Chatwins Roman „The Songlines“ über die „Traumpfade“ der australischen Aborigines angeregt ist. Dieser Schöpfungsmythos schlägt sich in der Konzeption der Komposition direkt nieder. Und zwar durch die Erkenntnis, wie Brass erklärt, „dass Denken in Musik, aber auch jede Wahrnehmung von Musik ohne ein ‚inneres Singen‘ nicht bewusstseinsfähig ist. Diesem ‚inneren Singen‘ spürt meine Musik nach.“ So ist „songline I“ in der Tat ein ätherisches, schwebendes Stück, das trotz oder gerade wegen ihres avantgardistischen Klangs perfekt als Bindeglied zwischen den beiden Partiten von Bach funktioniert. Wie eine freie Bridge im Jazz, die eine Atempause schafft, um danach befreit das Thema wieder aufnehmen zu können.
Es ist aber noch etwas anderes, was die „songlines“ mit der Musik Bachs verbindet. Brass hat seine Komposition zwar tonal, dynamisch und agogisch festgelegt, aber in der metrisch-rhythmischen Gestaltung frei notiert, aus folgendem Grund: „Dies fordert den Interpreten, die Interpretin heraus, in der Auseinandersetzung mit dem Text die jeweils ‚eigene Stimme‘ zu finden und zu artikulieren, um so den Gehalt der Musik zur Sprache zu bringen.“ Genau das also, was Bachs Werke ebenfalls verlangen. Und was Doris Orsan auf „Ciaccona“ meisterlich einlöst.
Doris Orsan studierte Violine am Mozarteum in Salzburg und als Stipendiatin des DAAD an der Juilliard School of Music in New York. Ihr Konzert- und Meisterklassendiplom absolvierte sie mit Auszeichnung. Sie wurde mit dem Würdigungspreis für Kultur des Österreichischen Staates ausgezeichnet. Doris Orsan promovierte mit „summa cum laude“ über die Violinkonzerte W. A. Mozarts. Ihre Dissertation ist unter dem Titel „Ein Genie reift“ erschienen. Ihre CD-Einspielungen umfassen Musik von Johann Sebastian Bach, Franz Schubert, spanisch-lateinamerikanische Kompositionen sowie Uraufführungen zeitgenössischer Werke.